D. Siegrist: Sumiswald vor zweihundert Jahren

Cover
Titel
Sumiswald vor zweihundert Jahren. Pfarrer Rudolf Fetscherins Gemeindeporträt von 1826 in einer zeitgemässen und illustrierten Bearbeitung von Dieter Sigrist


Herausgeber
Siegrist, Dieter
Erschienen
o.O. 2021: -
Anzahl Seiten
224 S.
von
Gerrendina Gerber-Visser

Eine der umfassendsten und interessantesten «Topographischen Beschreibungen» der Oekonomischen Gesellschaft Bern aus dem frühen 19. Jahrhundert liegt nun gedruckt vor. Der Autor der Topographie, Samuel Rudolf Fetscherin, von 1818 bis 1851 Pfarrer in Sumiswald, hat 1826 die verschiedensten Themen wie die geografische Lage, die Bevölkerung und deren Erwerbsquellen, die Landwirtschaft mit Viehzucht und Alpwirtschaft, das Handwerk und den Handel in seiner Gemeinde beschrieben. Für den heutigen Leser spannend ist beispielsweise das Verzeichnis der Handwerker (S. 69f.), das in verschiedenen Branchen eine grosse Spezialisierung aufzeigt. Fetscherin hielt sich in seiner Beschreibung streng an die Vorgaben der Oekonomischen Gesellschaft. Entsprechend berichtet er auch ausführlich über die Gemeindeorganisation und das Schulwesen, die Lebensart der Einwohner, ihre Sitten und Unsitten, die Behausungen usw. Die Kapitel und der Aufbau der «Topographischen Beschreibung» folgen genau dem Schema, das die Gesellschaft 1824 gedruckt hatte, nur die Themen «Allmenten» und «Rebbau» entfielen, weil beide in Sumiswald keine Rolle spielten. Im Anschluss an die eigentliche Gemeindebeschreibung finden sich zusätzliche «Beiträge zur Kenntnis des hiesigen Armenwesens» (S. 195–210). Die Geschichte der Armenanstalt (S. 201–209) stammt laut Fetscherin aus der Feder eines Mitglieds des Gemeinderates. Die Bekämpfung der Armut war ein wichtiges Anliegen Fetscherins, der sich später an der Gründung des Armenhauses in Trachselwald beteiligen sollte. Das Buch enthält ausserdem zwei von Fetscherin erstellte Verzeichnisse, jenes der Höfe und Güter sowie jenes der burgerlichen Geschlechter.

Das Buch ist reich illustriert. Dabei wechseln sich schöne, zeitgenössische Stiche und Fotos von zeitgenössischen Objekten mit weniger passenden Fotos aus anderen Jahrhunderten ab. Ein wirkliches Schmuckstück ist die Fotografe des Setzkastens mit Miniaturen der Arbeitswelt, welche die Gründer der «Kranken- und Hülfskasse Sumiswald» in den 1820er-Jahren im Gasthof «Bären» als Dauerausstellung einrichteten. Sie illustriert Fetscherins Text ausgezeichnet, und die kleine Ausstellung wird im Text auch erwähnt (S. 65). Weshalb die Abbildung nicht an der entsprechenden Stelle eingefügt wurde, sondern dreissig Seiten vorher, ist unklar.

Leider handelt es sich bei der vorliegenden Edition nicht um eine kritische Ausgabe. Eine Kontextualisierung fehlt praktisch vollständig, so wird beispielsweise der Bezug zur Oekonomischen Gesellschaft, die mit ihrer Preisaufgabe den Text überhaupt initiiert hat, nur dürftig in einer Fussnote hergestellt. Dass für diese Gesellschaft im Kanton Bern insgesamt fast fünfzig «Topographische Beschreibungen» verfasst wurden und dass die hier vorliegende eine der ausführlichsten ist, wird nicht erwähnt. Quellenkritische Betrachtungen finden sich keine, sodass die Existenz eines weiteren Manuskripts sowie einer Teilabschrift und eines zeitgenössischen Teildruckes – abgesehen vom Hinweis auf die Sumiswalder «Streifichter» – nicht zur Sprache kommt. Das Buch enthält kein Literaturverzeichnis. Sogar bei der Biografie Pfarrer Fetscherins fehlen Angaben zu weiterführender Literatur oder Verweise auf die Quellen des Herausgebers. Eingefügt wurde eine Liste der damaligen Masse und Gewichte sowie eine Umrechnung der gebräuchlichsten Münzen. Bei den Angaben zum Geldwert ist allerdings Vorsicht geboten, da unterschiedliche Indizes angewandt werden müssten. Hilfreicher ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit Taglohn und Brotpreis (S. 82).

Am Anfang jeden Kapitels steht ein kurzer Lead des Herausgebers, oft in Form eines Kommentars. Danach folgt Fetscherins Text, der konsequent modernisiert wird, nicht nur was die Gross- oder Kleinschreibung und Interpunktion anbelangt, sondern auch bezüglich Orthografe. Das Weglassen des «h» bei Wörtern wie «Thal» oder der Ersatz des «y» durch ein «i» in Wörtern wie «bey» schaffen zwar wohl eine Angleichung an das moderne Deutsch, tragen aber nichts zur besseren Verständlichkeit bei und bedeuten einen Verlust der Authentizität. Der Herausgeber geht aber noch weiter, indem er einzelne Wörter und Begriffe durch moderne Ausdrücke ersetzt und ganze Satzteile umstellt. Alle geografischen Begriffe werden konsequent in ihrer heutigen Schreibweise verwendet. Schade, denn der Text verliert dadurch von seiner Ursprünglichkeit und passt auch nicht mehr in das beginnende 19. Jahrhundert. Und weshalb heisst es zum Beispiel «Die Gemeinde ist in vier Bezirke eingeteilt» (S. 21) anstatt wie im Original «abgetheilt»? Auch die Leserin des 21. Jahrhunderts versteht den Originaltext, und sie fühlt sich unter Umständen bevormundet, dass ihr dieser vorenthalten wird. Ein Beispiel für eine wirklich problematische Modernisierung ist der häufige Ersatz des ursprünglichen Wortes «Telle» durch «Steuer». Solche nicht einmal gekennzeichneten Änderungen sind bei einer Edition unzulässig. Auch die eingefügten Erklärungen sind leider nicht immer einwandfrei: So steht hinter dem von Fetscherin verwendeten zeitgenössischen Begriff «Proselyten» als Erklärung «Bekehrungen» (S. 58). Ein Blick ins Historische Lexikon der Schweiz hätte genügt, um den Begriff korrekt mit «Konvertiten» wiederzugeben. Die im Text folgende «Proselytenmacherei» hätte hingegen mit «Bekehrungen» erläutert werden dürfen. Ähnlich ungenau beziehungsweise falsch ist die in Klammern gesetzte Umschreibung von «Herbstweide» mit «Gras, das nach dem zweiten Schnitt gewachsen ist» (S. 115).

Die vorliegende Edition will in erster Linie dem Publikum in Sumiswald einen Einblick in seine Geschichte geben, so die erklärte Absicht des Herausgebers. Dieses Ziel wird sie wohl erreichen, und sicher wird der Text in Sumiswald gerne gelesen werden. Eine Konsultation der Fachliteratur, Vergleiche mit anderen Editionen von «Topographischen Beschreibungen», eine wissenschaftliche Beratung und ein Fachlektorat wären für die Edition dieses Textes aber zwingend nötig gewesen. Nur eine fachgerecht verfasste kritische Ausgabe im Originalwortlaut mit Kontextualisierung und Literaturhinweisen wäre der hohen Qualität des Manuskripts gerecht geworden.

Zitierweise:
Gerrendina Gerber-Visser: Rezension zu: Sumiswald vor zweihundert Jahren. Pfarrer Rudolf Fetscherins Gemeindeporträt von 1826 in einer zeitgemässen und illustrierten Bearbeitung von Dieter Sigrist. Dieter Sigrist 2021. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 1, 2022, S. 54-56.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 1, 2022, S. 54-56.

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